Projekt 1:
Die Gehorsamen. Dokumentarischer Roman über drei deutsche Familien 1878 – 1949

An der Recherche für diesen sozialpsychologisch und politisch motivierten Roman habe ich viele Jahre gearbeitet. Er erzählt die Geschichte und Geschichten von „einfachen Leuten“ aus drei Familien in Deutschland zwischen 1878 und 1949 – also von der „Kaiser-Zeit“ über den „Großen Krieg“ mit seiner traumatischen Niederlage hinein in die Dauerkrise der Weimarer Republik und bis ins kurze, aber welterschütternde Nazi-„Reich“ mit seinen Kriegen, Völkermorden und „Zusammenbrüchen“. Der Roman ist konsequent aus der Perspektive betroffener Frauen, Männer und Kinder der Unter- und Mittelschicht geschrieben, nicht aus der Sicht „derer da oben“.

Dabei geht der Text in der Tiefe einer spätestens seit 1945 gestellten und auch heute immer neu zu stellenden Frage nach: Wie konnte das alles im sogenannten „Land der Dichter und Denker“ geschehen? Während der Roman die Lesenden exemplarisch entlang der Lebenswege einiger „ganz normaler“ Menschen durch die unmenschlichsten 70 Jahre deutscher Geschichte führt, werden mögliche Antworten sichtbar.

Die meisten Familien in Deutschland und Österreich hatten über die beschriebenen zwei Generationen näheren oder ferneren Kontakt zu Opfern der jeweils Herrschenden: zu Juden, „Zigeunern“, Sozialisten, Kommunisten, radikalen Christen, Homosexuellen, Behinderten, Andersdenkenden jeder Couleur und – „Fremden“. Dabei haben sich viele als Zuschauer und Mitwisser von massenhaftem Unrecht, oberflächlich betrachtet, „herausgehalten”. Doch zahlreiche ganz normale Deutsche – Bauern, Arbeiter, Angestellte, Beamte, Unternehmer, Richter, Soldaten – sind in beiden Weltkriegen und besonders in der Nazi-Zeit auch zu Tätern unterschiedlichen Grades in in ihren jeweiligen Aktionsbereichen geworden. Und viele Familien haben in ihrem Umfeld deutlich sichtbare Opfer aus ihrem Bewusstsein, auch aus ihren eigenen Kreisen verdrängt und „totgeschwiegen“. Die Verstrickung mit Täter- und Opfer-Rollen in Partner- und Familienbeziehungen, im Beruf, in der Tagespolitik und im gesellschaftlichen Alltag wurde so zur Tiefenstruktur des Lebens von zahllosen Menschen.

Das kollektive Verdrängen und Verschweigen von beobachteten, unterstützten oder aktiv begangenen Verbrechen ebenso wie von wahrgenommenem Opfer-Leid wurde im „Land der Richter und Henker“ erst seit den 1960er Jahren langsam aufgebrochen. Das geschah in späten KZ-Prozessen, durch die Revolte der Außerparlamentarischen Opposition (APO), durch Teile der deutschen Literatur und Presse, in Familiengesprächen; später in der öffentlichen Diskussion, in Gedenkreden, -ritualen und -bauten, in historisch-politischen Untersuchungen, schließlich in Verträgen zur „Wiedergutmachung“. Diese  verzögerte Bearbeitung der deutschen Katastrophe läuft bis heute in einem anschwellenden Strom von Büchern und Filmen über die Taten und Unterlassungen unserer Väter, Mütter, Großväter und Großmütter. Gleichzeitig werden auch die oberflächenhaft wechselnden und doch in ihrem Einfluss sehr konstanten Macht-, Profit- und Ausbeutungssysteme immer sichtbarer, denen vor allem die Menschen der Unter- und Mittelschichten ausgesetzt waren bzw. an denen sie unbewusst oder wissentlich mitwirkten.

Bei den Recherchen zu Familien dieser sozialen Schichten seit dem 1870er-Krieg gegen Frankreich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mir besonders zwei Dinge klar:

  • Viele individuelle Denk- und Verhaltensweisen, viele Einzelhandlungen, viele subjektive Machtlust- und Leidenserfahrungen haben sich unbewusst zu kollektiven, gesellschaftsprägenden, „Geschichte“ auslösenden sozialen Energien gebündelt.
  • Die lückenlose historische Wahrheit über Personen, Gruppen, Handlungen lässt sich trotz intensivster Recherche und reichlichem Privat- und Archivmaterial nicht ermitteln. Es bleiben z. B. so große Lücken in individuellen Lebensgeschichten und Verhaltensmotiven, dass historische Personen für Nachforschende zwangsläufig zu vorgestellten, also fiktiven Figuren werden. Nur eine relative Wahrheit wird also vom Schreiber einer Geschichte, auch eines dokumentarischen Romans, nacherfunden: Das nicht mehr Auffindbare wird durch das erfindende Schreiben überbrückt – bildlich ausgedrückt: wie von einem Kind, das von einem sicheren Stein zum nächsten über einen Bach springt.

Diese Beobachtungen haben mich davon überzeugt, dass es wenig Sinn hat, einen weiteren „Familienroman“ über die Katastrophenzeit des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa zu schreiben. Meine Roman-Geschichte steht deshalb bewusst für viele – im Grundsatz ähnliche – Geschichten, die in dieser Zeit dicht nebeneinander, oft jedoch ohne Kenntnis der Betroffenen voneinander abgelaufen sind. Und meine Roman-Figuren sind nicht „echte“ Personen aus historischen Familien oder deren Pseudonyme, sondern Stellvertreter-Figuren für viele andere: Täter oder Opfer oder „Zuschauer“, die es zwar nicht genau so gegeben hat, wie sie aber ähnlich und in großer Zahl am sozialen Prozess beteiligt waren.

Der Text meines Romans Die Gehorsamen gibt mehreren „Stimmen“ Raum, die zusammen eine meist nachvollziehbare, manchmal aber auch rätselhaft bleibende Geschichte erzählen und einander dabei ergänzen. Eingebaut sind an wichtigen Handlungspunkten häufig Originaldokumente aus  den 70 Jahren deutscher Geschichte, die in der Erzählung fiktional verarbeitet werden; diese Dokumente spiegeln starke Umwelt-Kräfte, die auf das Empfinden, Denken und Handeln der Roman-Figuren  einwirken.

Mein Roman ist im September 2022 im Vergangenheitsverlag Berlin (www.vergangenheitsverlag.de) veröffentlicht worden

Sind Sie interessiert? Sie können hier das Kapitel 3 lesen: Leseprobe.

Ich freue mich auf Ihre Leser-Reaktion, z. B. per E-Mail: Kontakt.

 

Ankündigung für Belletristik-Lesende:

Ich schreibe seit längerer Zeit an einem Zyklus von Erzählungen in rhythmischer Prosa, aus dem ich Ihnen hier eine erste Leseprobe anbiete:

Fluchten. Sieben Erzählgedichte zur Geschichte der Menschen.

Leseprobe: 1 Exodus

Zwölf Jahrhunderte vor dem Heiler und Wanderprediger Jesus,
den seine fromme Sekte „Messias“ ‒ Befreier, Erlöser ‒ genannt hat,
verlangt Mose, der elternlose Findling
und Zögling am Hof des ägyptischen Pharao,
vom zweiten Ramses die Freiheit des Sklavenvolks,
nachdem es dem Herrscher die Städte Pitom
und Piramesse als Vorratslager erbaut hatte
mit bloßen Händen:
Let my people go!
If not I’ll smite your firstborn dead.

Doch erst Jahre später, als der Todesengel
den Ägyptern die Erstgeborenen tötet
und nur die blutbeschmierten Hütten
der Gefangenen und Arbeitssklaven verschont,
die sich „Israel“ nennen ‒ „Gott herrscht“ ‒
da lässt der Pharao sie frei, widerwillig,
voll Zorn, doch eine elfte Plage fürchtend:
den Tod seines ganzen Volkes.
No more shall they in bondage toil.
Let them come out with Egypt’s spoil.

In der Nacht, die dem Ja des Herrschers folgt,
flüchtet das Volk von Fronarbeiter-Familien
mit seinen Tieren in panischem Zuge
nach Osten, in Richtung der Halbinsel Sinai.
Oh let us all from bondage flee …
Keine Zeit bleibt Israels Frauen,
noch den Sauerteig fürs nötige Brot
anzusetzen: Allein aus Mehl und Wasser
eilends gebackene Brotfladen
nehmen sie mit als Proviant ‒ und
das Vertrauen auf Mose, den Anführer,
der für sie eine neue Heimat finden wird:
ob in den Steinwüsten des Sinai
oder am Ende der Welt,
und sei es in hundert Jahren.

Wo das Rote Meer flach
und von Schilf bewachsen ist,
da meistern sie watend und schwimmend
die erste Prüfung des Exodus.
Die zweite erspart ihnen der Himmel,
der die Streitwagen des Ramses ins Meer spült
aus dem von Sturzregen gefluteten Wadi.
Ägyptens Soldaten hatten dort waffenstarrend
das geflüchtete Volk erwartet.
Thus saith the Lord, bold Moses said:
Let my people go.

Diese doppelte Rettung schreibt Mose
dem einen und einzigen Gott zu: JAHWE,
an den er glaubt und aus dessen Hand
er Jahre später das Gesetz empfängt
in der Gipfelwolke des Gebel Sinai,
während unten sein Volk tanzt
um das Stierbild des Ägyptergotts Apis.
Dafür zur Strafe, sagt das Buch Exodus,
habe JAHWE erst die folgende Generation
der Israeliten ins Land Kanaan
an den Fluss Jordan ziehen lassen.
Lange vorher schon habe er Mose versprochen,
seinem erwählten Volke dies Land zu geben,
„wo Milch und Honig fließt“.

Eine andere Erklärung haben die Bibelforscher:
Nur Jahrzehnte nach der Flucht Israels
hätten die Ägypter das heilige Land verlassen
und so ihren Schutz endgültig abgezogen
von den Königen und Städten Kanaans.
Erst dann hätten Israels Wüstenstämme
die dort sesshaften Völker angreifen können.
Nicht im Frieden also hätten die Kinder Israels
das fruchtbare Land am Jordan besiedelt,
vielmehr mit Krieg und Gewalt eroberten sie,
was JAHWE ihnen einst zugesagt habe.
In all diesen Schlachten, so glaubten sie,
habe IHR Gott mit Moses Hirtenstab
die Hand über sein siegendes Volk gehalten.
Und als sie durch Mose der Befehl JAHWES
erreicht habe, ganze Völker zu vertreiben
aus Palästina und andere auszurotten
ohne Spur – da hätten sie freudig gehorcht.

Trotz alldem jedoch hätten sie nie vergessen,
dass sie selbst einst Flüchtlinge waren,
dem Tod in der Fremde oft nah.
Und sie hätten seitdem im Pessach-Fest
daran sich erinnert, Jahr um Jahr bis heute,
mehr als drei Jahrtausende lang:
Über die Erde verstreut, doch an Pessach gemeinsam
essen sie die ungesäuerten Fladen
zum Gedächtnis an die erste Nacht ihres Volkes
auf der Flucht „ins gelobte Land“.